Im Ruhrgebiet ist Wettbewerb. Künstler und Künstlerinnen füllen ein Vakuum in einer Metropole, die durch einen Wandel gekennzeichnet ist, der kaum eine Ähnlichkeit mit Regionen anderer Kulturlandschaften besitzt. Neben dem Abbau von Kohle hat die Stahlherstellung nicht nur Arbeit und Wohlstand, sondern Leben und Gesellschaft bisher meist zugewanderter Menschen geprägt.

In den Stahlwerken wurde bei Hitze, Staub und Lärm malocht, die Stahlarbeiter hatten noch vor nicht allzu langer Zeit hohe Holzschuhe an. Glühende Schmelze wurde in riesenhaften Gefäßen, den Pfannen, mit Hallenkranen an meterhohen Haken von Ort zu Ort geschafft, um sie in die Schmelzöfen zu gießen. Dabei konnte eine solche Pfanne bei ungenügendem Schamott manchmal eine »rote Wange« bekommen. Dann war kein Entkommen, denn die glühende Masse platzte heraus und ergoss sich über den Boden der Fabrikhalle. Darin konnte man mit den Holschuhen kurze Zeit überleben, bis man sich in Sicherheit gebracht hatte. Dann brauchte man neue Holzschuhe.

Die Angestellten im Kontor hatten nichts mit Schmutz und Gefahren zu tun. Zu den weißen Kragen gehörten glatte und polierte Schuhe.
So konnte sich eine emporstrebende Bürgerschicht von der Arbeiterschaft abgrenzen.

Man kann sich vorstellen, mit welcher Sorgfalt – besonders bei Männern – täglich das Paar Schuhe in Form gebracht wurde. Natürlich orientierte man sich nach oben.
Kaiser und wohlhabendes Großbürgertum setzten den Maßstab: Mit der Bartbinde zu schlafen ermöglichte es sogar, die schnurgerade Aufwärtsbewegung des Schnurbarts von Wilhelm II. zu ermöglichen. Diesen Binden am oberen Teil des Körpers entsprach der wohlgeformte Schuhspanner, der nachts den Schuhen ihre gepflegte Form für den unteren Teil zurückgab.
Hundert Jahre später ist das Leben nicht mehr durch Industriearbeit geprägt und keine kaiserlichen Äußerlichkeiten bestimmen die luxuriösen Lebenswünsche breiter Massen.
Die letzte glühende Bramme hat Dortmund längst in einer Zeit verlassen, als Regierungsmitglieder bereits in Turnschuhen zur Arbeit gehen konnten. Mit formvollendeten, hochpolierten Herrenschuhen war in diesem Zeitalter kein Staat mehr zu machen.

Schuhspanner entdeckten nun andere: Individualisten, Verschrobene oder Liebhaber von außergewöhnlichen Dingen und Fetischisten. Gerade das Nutzlose für modische Schuhe, die ohnehin nur eine kurze Saison zu tragen sind, machten diese Fossile der Vergangenheit zu begehrten Kultobjekten, mit denen man sich vom Mainstream gewöhnlicher Konsumenten absetzen konnte.

Wenn die fühl- und fassbare Dinglichkeit zunehmend droht, in virtuelle Welten hinter der Bildschirmoberfläche zu verschwinden, dann beginnen handliche Formen und Oberflächen von persönlichen Objekten ihre ganz neue und lebensbejahende Qualität zu entfalten. Plötzlich haben auch die eigenwilligen Formen des Schuhspanners begonnen, die Neugier und Sehnsucht nach haptischer Berührung und manueller Geschicklichkeit herauszufordern.

Gegenüber modernem Objektdesign erscheinen uns Form und Material der handwerklich und seriell gefertigten Schuhspanner als formvollendet, als mustergültig, als praktisch und schön. Hartholz und Stahl verbindet uns zudem mit der Zuversicht zu traditionell Bewährtem, sein Material erinnert an Kraft, Härte und Ausdauer. Und durch seine dienende Funktion hat er seinen festen Ort innerhalb eines ganz persönlichen Lebensbereichs.

Aber nicht jedes Objekt kann den gestalterischen Willen von Künstlern herausfordern. Spätestens seit Picasso Fahrradlenker und -sattel zum Stierkopf zusammenfügte, sind es die eigenwilligen, die ausdruckstarken Formen, die die Schöpferkraft von Künstlern zur Entfaltung ihrer intuitiven Botschaften inspirieren. Und ein Schuhspanner vermag dies in hohem Maße. Gerade weil dieser Gegenstand unseres Interesses auf unbeabsichtigte Weise von vorn herein eine hohe bildhauerische Qualität aufweist, kann künstlerischer Gestaltungswillen den ursprünglichen Kern zu individueller Bearbeitung oder Fertigstellung aufspüren.

Über siebzig Künstler und Künstlerinnen haben dies aufgrund eines in Dortmund ausgeschriebenen Wettbewerbs getan. So sind künstlerische Objekte, Skulpturen, Filme und Installationen entstanden, die sich alle auf vollkommen unterschiedliche Weise in irgendeinen Bezug zu Form oder Thema des Schuhspanners setzten. Zur intensiven Auseinandersetzung hat jedem der Auslober ein einzelnes Muster zugesandt, wohl wissend, dass eine paarweise Zusendung den Missbrauch praktischer Anwendung hätte bedeuten können. Daraus ist nicht nur ein Wettbewerb, sondern eine Sammlung entstanden, deren Gesamtschau in einer Ausstellung mehr als eine Ansammlung einzelner Objekte darstellt. Gerade der Sinnbezug und seine Einmaligkeit bestimmen den besonderen Wert dieser ausgefallenen Sammlung.

Der Schuhspanner hat eine ungefähr hundertjährige Geschichte. Viele ähnliche Gebrauchsgegenstände sind seither aus unserem Gesichtsfeld verschwunden oder allenfalls noch in Museen aufzufinden.

Dinge verbrauchen sich, schleifen sich ab, ändern Form und Funktion, bis sie manchmal vielleicht als Relikte den Hauch der Zeitlosigkeit erhalten.

Die Jury dieses Wettbewerbs hat im Herbst 2007 ein solches – künstlerisch geschaffenes –
Relikt (siehe Abbildung links) mit einem ersten Preis belegt: In seine Einzelteile zerlegt, durch »lange Abnutzung« rund geschliffen, wie in archaische Chiffren neu zusammengefügt überwinden die künstlerischen Teile die Dauer von Zeit: Keiner im Ruhrgebiet weiß noch vom Waten mit Holzschuhen in glühendem Stahl.